Aventicum-Avenches, Vorort der civitas/colonia Helvetiorum

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Gründung und Aufbau

Spuren einer spätlatènezeitlichen Siedlung unterhalb der römischen Bebauung fehlen. Im Bereich der Tempel im Westen der Stadt fanden sich jedoch keltische Bestattungen und Spuren eines älteren Heiligtums. Vermutlich verehrte man hier die Wassergottheit Aventia, die auch der römischen Siedlung ihren Namen gab. Ein Oppidum befand sich im nahe gelegenen Bois de Châtel. Die erste Bauten datieren ab dem 1. Jahrzehnt n. Chr. Aventicum war zunächst der Vorort der civitas Helvetiorum. Um 70 n. Chr. erhob Kaiser Vespasian die Stadt in den Rang einer Kolonie, die nun offiziell Colonia Pia Flavia Constans Emerita Helvetiorum Foederata hieß. Ein Grund für die Auszeichnung dürfte die Tatsche gewesen sein, dass es sich um den Heimatort von Vespasians Schwiegervater handelte.
Der Ausbau der Stadt erfolgte von der Gründung bis ins 3. Jh. n. Chr. Die ersten Bauten waren aus Lehmziegeln oder gestampftem Lehm entstanden, ab ca. 40 n. Chr. wurde auch in Stein gebaut. Ein besonderes Bauprogramm, in dessen Zuge auch die Stadtmauer entstand, begann mit der Gründung der Kolonie, was auch zu einer Erhöhung des Straßenpflasters bis zu einem Meter führte. Ins 2. Jh. n. Chr. fällt die Entstehung zahlreicher Großbauten wie das Cigognier- und Grange du Dîme-Heiligtum sowie von Amphitheater und Theater.


Stadtanlage

Innerhalb eines Gebietes von 540 x 500 m waren die Straßen rechteckig angelegt und in 42 Gebäudeblocks (insulae) eingeteilt. Außerhalb dieses Rasters lagen noch Spielstätten, Heiligtümer und Handwerkerquartiere. Die besiedelte Fläche betrug über 70 ha. Die 5,5 km lange Stadtmauer schloss auch größere, nicht besiedelte Areale ein. Sie wurde bald nach der Koloniegründung noch in den 70er Jahren des 1. Jh. n. Chr. mit fünf Toren und 73 Türmen errichtet.

Stadtplan und Einteilung der insulae (rechts)
Hauptphasen der Stadtentwicklung. A: Augustus bis Nero (6/7 n. Chr.-69), B: flavische Epoche (69-96), C: 2.-3. Jh
Rekonstruierte Stadtansicht um 180 n. Chr.
Schematischer Plan des Osttores
Rekonstruktion des Osttores


Öffentliche Gebäude und Funktionsbauten

Das Forum lag im Zentrum der Stadt im Bereich dreier Gebäudeblocks (insula 22, 28, 34). Im nördlichen Teil lag die sakrale Zone mit einem Tempel in der Mitte, dessen hier verehrte Gottheit unbekannt ist. In der südlichen Zone befand sich der öffentliche Bereich mit der Basilika. Die Anlage entstand um die Mitte des 1. Jh. n. Chr. In die erste Hälfte des 1. Jh. n. Chr. datieren Reste überlebensgroßer Marmorstatuen.
In unmittelbarer Nachbarschaft (insula 23) lag ein öffentliches Gebäude mit mehreren Räumen, dessen Deutung unklar ist. Es wird als Capitolstempel, Versammlungsort des Stadtrates (curia) oder auch Sitz von Korporationen interpretiert. Der Bau datiert ins frühe 2. Jh. n. Chr. und entstand über den ehemaligen Thermen.
Grundriss des Forums mit den angrenzenden inuslae
Grundriss des öffentlichen Gebäudes auf insula 23

Die Forumsthermen wurden in früflavischer Zeit um 70 n. Chr. verlegt. Anstatt der ältereren, überbauten Anlage (insula 23) entstand auf der südlich gelegenen insula 9 ein größerer achsial-symmetrischer Bau (105,50 x 71 m).
Grundriss der älteren Forumsthermen auf insula 23
Grundriss der älteren Forumsthermen auf insula 29

Eine weitere größere Thermenanlage befand sich bereits in der ersten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. in der Nähe Grange-du-Dîme-Heiligtums (insula 19).
Grundriss der Thermen auf insula 19
Rekonstruktion der Thermen auf insula 19

Im westlichen Stadtgebiet erstreckte sich eine Zone mit Heiligtümern, Theater und Amphitheater. Einige Kultbauten standen direkt über keltischen Gräbern. Beim Derrière la la Tour-Tempel wurde auch ein älteres bis in die zweite Hälfte des 1. Jh. n. Chr. datierbares Heiligtum nachgewiesen. Der Ausbau in Stein erfolgte ab der Mitte des 1. Jh. n. Chr. Ab dem späten 1. Jh. n. Chr. entstanden südlich davon der Cigognier-Tempel und das Theater sowie das Amphitheater.

Das westliche Stadtquartier mit Tempelanlagen und Spielstätten
Rekonstruktion des Westquartiers. Ansicht von Süd

Bei den Tempelanlagen Derrière la Tour und Grange-du-Dîme handelt es sich jeweils um große gallorömische Umgangstempel mit Freitreppen. Sie entstanden in der zweiten Hälfte des 1. bzw. im frühen 2. Jh. n. Chr. Im Bereich von Derrière la la Tour lag ein älteres keltisches Heiligtum mit Umfassungsgraben. Um die Mitte des 1. Jh. n. Chr. datiert ein zwischen den beiden Tempeln liegender Rundtempel. Die steinernen Umfassungsmauern wurden Anfang des 2. Jh. n. Chr. errichtet. Neben dem Heiligtum von Grange-du-Dîme konnte ein weiterer kleinerer Umgangstempel nachgewiesen werden. Verehrt wurden in diesem Bereich einheimische Götter.

Grundriss des Grange-du-Dîme-Tempels mit Umgebung
Rekonstruktion des Rundtempels beim Grange-du-Dîme-Heiligtum

Der Cigonier-Tempel stand in römischer Bautradition und lag innerhalb eines großen quadratischen Vorhofes mit Portiken an drei Seiten (106,8 x 76,65 m). Die zum Unterbau gehörenden Eichenpfähle wurden 98 n. Chr. gefällt. Vorbild für den Bau stellte das Templum Pacis in Rom dar. Der Tempel diente wohl dem Kaiserkult, möglicherweise wurden auch Iupiter und einheimische Gottheiten verehrt. Cigognier-Heiligtum und Theater bildeten durch eine gemeinsame Achse eine städtebauliche Einheit.

Grundriss des Cigognier –Tempels
Rekonstruktion des Cigognier –Tempels

 

Unmittelbar südlich des Cigognier-Tempels befand sich innerhalb einer Umfassungsmauer ein offenes Gebäude mit überdachtem seitlichem Umgang. Es handelt sich eventuell um ein Nymphäum (Nymphen-Heiligtum). Knapp außerhalb der Umfriedung standen zwei gallorömische Umgangstempel. Das szenische Theater war auf den Cigonier-Tempel ausgerichtet. Es wurde, wie das Heiligtum, um 100 n. Chr. unter Zerstörung einer Vorgängerbebauung errichtet. Es bot ca. 8.000 bis 9.000 Personen Platz. Das Amphitheater war Anfang des 2. Jh. n. Chr. erbaut und an der Wende vom 2. zum 3. Jh. n. Chr. umgebaut worden. In seinem endgültigen Ausbau verfügte es über ca. 8.000 Sitzplätze.
Übersichtsplan mit Cigognier-Tempel und Theater
Grundriss des Theaters mit Rekonstruktion (rechte Bildhälfte)
Grundriss des Amphithaters im 3. Jh

An der westlichen Stadtperipherie (westl. von insula 7) entstand ab der Mitte des 1. Jh. n. Chr. die Palastvilla von Derrière la Tour mit großen Innenhöfen, und luxuriös ausgestatteten Räumen mit Mosaiken sowie einem eigenen Badetrakt. Die Funktion ist unklar. Es könnte sich um ein Verwaltungszentrum und Unterkunftshaus für hochgestellte Gäste handeln, falls es nicht als Residenz einer hochgestellten Familie gewertet wird.

Grundriss der Palastvilla von Derrière la Tour
Rekonstruktion der Palastvilla von Derrière la Tour


Wohnbebauung

Anfangs wurden die nur Stadtviertel entlang der Hauptstraßen bewohnt. Die Häuser waren als Holzfachwerkbauten und mit luftgetrockneten Lehmziegeln errichtet. Ab der Mitte des 1. Jh. n. Chr. wurde auch die Steinbauweise verwendet und unbebaute Flächen genutzt.

Zwei großflächige Wohnhäuser mit Innenhöfen und Gärten (domus) entstanden auf der insula 13 nach der Mitte des 1. Jh. n. Chr. Das östliche Gebäude nahm eine Fläche von über 3.000 m2 ein. Ähnlich gut ausgestattete Bauten lassen sich auch an anderen Stellen innerhalb der Stadt nachweisen (insula 10, 12, 16). Neben Gebäudeblocks mit nur wenigen großen Häusern waren die meisten insulae in acht oder mehr Parzellen eingeteilt.

Grundriss der insula 13
Rekonstruktion der insula 13
Bebauungsphasen der insula 161.-Mitte 3. Jh. n. Chr.
Parzellierung der insula 18 ca. Mitte 1. Jh. n. Chr.

Auf den nordöstlichen Stadtquartiere (östlich von insula 3) wurden ab ca. 40 n. Chr. Töpfereien und Ziegeleien betrieben. Nach dem Bau der Stadtmauer wurde auch dieser Bereich in das Straßennetz integriert und mit Wohnbauten versehen, die erst ab der Mitte 2. Jh. n. Chr. in Stein ausgebaut wurden. Die Handwerksbetriebe wurden in Bereiche außerhalb der Stadtmauer verlagert.

Übersichtsplan zur Bebauung des nordwestlichen Stadtquartiers im 1. Jh. n. Chr.
Übersichtsplan zur Bebauung des nordwestlichen Stadtquartiers im 2. Jh. n. Chr.


Wasserversorgung

Sechs Aquädukte versorgten die Stadt mit Wasser. Die größte Leitung (Bonne Fontaine) führte es in gewölbtem Kanal über 17 km in die Stadt.

Verlauf der nach Aventicum-Avenches führenden Fernwasserleitungen
Fernwasserleitung im Querschnitt

Hafen
Der Hafen am Murtensee lag 1300 m nördlich der Stadt und war mit ihr durch eine Straße verbunden. Für die erst Kaianlage liegt ein Dendrodatum von 8 v. Chr. vor. Bis kurz vor die Stadtmauer lief auch ein schiffbarer Kanal mit einer eigenen Anlegestelle.

Hafenanlagen und Kanal nördlich der Stadtmauer


Sichtbare Reste
In Avenches können innerhalb eines Rundganges mehrere Monumente wie Theater und Amphitheater besichtigt werden.

Luftbildaufnahme des Theaters


Museum
Funde aus der antiken Stadt sind im Musée romain in Avenches ausgestellt.

Thomas Schmidts

Literatur (Auswahl)

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M. Bossert, Développement du forum d'Aventicum, centre urban du "caput Helvetiorum". In: La politique édilitaire 1 (Cluj-Napoca 1993) 37-47.

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Ph. Bridel, Die Gründung einer neuen Stadt: Aventicum, Hauptstadt der Helvetier. Archäologie der Schweiz 24/2, 2001, 12-14.

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M. Verzár-Bass, Bemerkungen zum Problem der Kaiserkultstätte in Aventicum. - in: Arculiana. Festschr. H. Bögli (Avenches 1995).

Mit laufenden Berichten zu den Forschungen in Avenches:
Bulletin de l’Association Pro Aventico 1, 1887 ff.