Die Forschungssituation zu Kultanlagen in der Provinz Noricum
ist allgemein derzeit wenig befriedigend. Die meisten bekannten Heiligtümer
wurden bereits vor dem 1. Weltkrieg oder in der Zwischenkriegszeit ausgegraben.
Die diesbezüglichen Berichte sind aufgrund der damaligen wirtschaftlichen
Situation knapp gehalten und geben neben einer Darstellung der wichtigsten Funde
kaum Informationen über den Grundriss hinaus. Andererseits wurden seit
2004 mehrere Heiligtümer in Südnoricum entdeckt bzw. altbekannte Befunde
neu untersucht, wie etwa drei Umgangstempel in Celje und ein Umgangstempel auf
der Gurina im Kärntner Gailtal, ein Podiumstempel in umgebenden Hallenanlagen
mit Exedren für Hercules auf dem Zollfeld nahe Virunum oder der 2006 auf
dem Gipfel der Händlersiedlung auf dem Magdalensberg festgestellte Podiumstempel
vor- oder frühaugusteischer Zeit. Hierfür liegen nur kurze Vorberichte
vor oder befinden sich gar erst im Druck.
Die innerstädtischen Tempelanlagen und Heiligtümer Noricums werden
im Kapitel über die Städte ausführlich besprochen und können
hier zusammenfassend dargestellt werden. In Virunum und Celeia sind jeweils
– in den Substruktionen dreigeteilte – Podiumstempel in einer eigenen
area sacra am Forum bekannt, die allgemein als Capitolia angesprochen werden,
obwohl es dafür keine unterstützenden Funde wie Kultstatuen oder Inschriften
gibt. In Celeia wurden aber in unmittelbarer Nähe ein kolossaler Kopf und
weitere Teile von einer Kultstatue im Typ des Apollo gefunden, weswegen der
Haupttempel der Stadt eher diesem Gott, vielleicht in einer lokalen Variante
als Apollo Belinus oder Apollo Grannus gehört haben dürfte. Für
Belinus, der nach dem christlichen Schriftsteller Tertullian der Hauptgott der
Noriker war, wurde erst vor kurzem erstmals eine Weihinschrift in Celeia gefunden.
Grannus besaß in Teurnia beim Forum ein als navale bezeichnetes Heiligtum,
von dem bisher nur die Bauinschrift bekannt ist.
In
Iuvavum wurde in der Nachkriegszeit im dicht verbauten Gebiet der Salzburger
Altstadt der Grundriss eines Ringhallentempels nachgewiesen, des einzigen dieser
Art in der Provinz Noricum bisher. Nach zahlreichen Statuenfragmenten und Weihinschriften
war dieser Tempel dem Heilgott Aesculapius, den der griechische Mythos als Sohn
des Apollo kennzeichnet, und seiner Kultgenossin Hygieia geweiht. In den anderen
norischen Munizipien sind bisher keine offiziellen innerstädtischen Kultbauten
bekannt geworden. Da in Noricum zwar über 100 Weihinschriften für
Iuppiter Optimus Maximus, den obersten römischen Staatsgott vorliegen,
davon aber nur zwei der Kapitolinischen Trias (Iuppiter, Iuno und Minerva) gelten,
und Munizipien in der Wahl ihres lokalen Hauptgottes frei waren, ist die Kapitolsthese
für Celeia und Virunum jedenfalls zu hinterfragen. Nach dem Beispiel von
Teurnia und Iuvavum würde man eher eine mit Apollo in Zusammenhang stehende
Heilgottheit erwarten.
Darüber hinaus besaßen mehrere Städte in unmittelbarer Stadtrandlage
bzw. im Zentrum der latènezeitlichen Vorgängersiedlung Podiumstempel,
die in Celeia (Miklavski hrb – Nikolausberg) und Virunum (St. Michael
auf dem Zollfeld) mit Hercules und dem Kaiserkult in Verbindung standen. Auf
dem Frauenberg bei Flavia Solva war ein Podiumstempel mit Apsis der Isis geweiht,
vielleicht ein weiterer Kultbau dem Mars Latobius.
In den kleineren Siedlungen am Land scheint der gallorömische Umgangstempel
eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Derartige Kultbauten mit einem auf vier
Seiten von Hallen (Umgängen) umgebenen Zentralraum gelten in der Forschung
mehrheitlich als Produkte der gallorömischen Mischkultur, andere Wissenschafter
sehen deren Entwicklung in Britannien und Gallien allerdings schon vor der römischen
Okkupation. In Noricum ist, neben den Neufunden am Stadtrand von Celeia, nur
ein erst im (frühen?) 3. Jh. über einem zusammengestürzten Vorgängerbau
errichteter und als navale bezeichneter Umgangstempel auf dem Burgstall im Lavanttal
in Unterkärnten baulich und inschriftlich gesichert. Er war dem lokalen,
mit Mars verwandten Gott Latobius geweiht, in seinem Bereich waren aber auch
Weihinschriften und Statuen des Iuppiter aufgestellt.
In einer Weihinschrift aus dem Gebiet um Flavia Solva wird der auch in
Südwestpannonien und Nordostnoricum unter dem Namen Marmogius verehrte
Gott
als Mars Latobius Marmogius Toutates Sinates Mogetius angerufen.
Von besonderem Interesse ist in Noricum für Fragen der Transformation das für die lokale Göttin Noreia errichtete Heiligtum. Es lag im Zentrum eines wegen der hier intensiv geübten Eisenverarbeitung wirtschaftlich zentralen Gebietes, nahe Schloss Hohenstein bei Pulst im Glantal in Kärnten, nur wenige Wegstunden entfernt von Virunum.
Der bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt gewordene
und 1895 erstmals ausgegrabene Tempel wurde 1932/33 neuerlich untersucht. Eine
Publikation der Kleinfunde unterblieb damals jedoch und ist nach deren Verschwinden
durch Diebstahl nicht mehr möglich. Eine Testgrabung 2004 erbrachte späte
südgallische Terra sigillata in den Fundamentgräben und bestätigte
stratigraphisch das aus der fragmentarisch erhaltenen Bauinschrift und den Resten
der Bauornamentik vermutete Errichtungsdatum in hadrianischer Zeit (117–138).
Der Bau stellte sich bei der Ausgrabung als ungefähr Nordnordwest-Südsüdost
orientierter, eher kleiner Podiumsstempel (Außenmaße 12,50m ×
7,30m) dar, der an drei Seiten im lichten Abstand von ca. 4,5–5,5 m von
einer etwa 3m breiten, mit Dachziegeln gedeckten Porticus umgeben wurde. Die
Südseite des Tempels als Eingangsseite besaß eine vorgelegte Freitreppe,
die zum Tempel hinaufführte. Die Tiefe des Treppenfundamentblocks von 1,9
m läßt auf ein 1,2–1,8 m hohes Podium schließen. Das
aus vermörtelten Bruchsteinen errichtete Tempelgebäude selbst war
zweigeteilt, wobei die Vorhalle (4,3 × 2,5 m) etwas mehr als die halbe
Tiefe der nördlich anschließenden cella (4,3 × 4,1 m) aufwies.
Die Größenverhältnisse der Fundamente lassen erkennen, dass
der Tempel die Form eines wohl tetrastylen Prostylos hatte, wobei die durchschnittliche
Jochbreite an der Front bei 2,3 m läge, eher aber das Mitteljoch betont
war. Der anzunehmende Altar dürfte in die zum Tempel hinaufführende
Treppe integriert worden sein, da ein zu jenem gehöriges Fundament am Fuß
der Stiegenanlage nicht existierte. An die Nordmauer der cella schloss ein Fundament
an, welches das Kultbild — von dem sich allerdings keine Reste mehr fanden
— getragen haben könnte.
Südlich des Tempels umschloss eine Mauer einen heiligen Bezirk in der Form
eines etwas verzogenen, dem Quadrat nahestehenden Rechtecks (Längen zw.
24,60 m und 30,90 m). Die auf einer künstlichen Terrassierung errichtete
Südmauer dürfte abgestürzt sein, von ihr fanden sich keine Reste
mehr, ihre Lage lässt sich aber ungefähr ermitteln. An die Innenseite
der Nordmauer lehnte sich ein Gussfundament (2 m × 3 m) an. Ein kleiner
Einbau befand sich derart in der Nordostecke der Umfassung, dass zwei seiner
vier Mauern von dieser gebildet wurden. Weitere Reste von Mauern im Inneren
der Umfriedung lassen auf die Existenz zusätzlicher, vielleicht kapellenartigen
Baulichkeiten schließen.
An die Ostwand der großen Umfassungsmauer war an deren Außenseite
eine Halle (mind. 16,5 m × 5 m) angesetzt, welche einen durch einen Windfang
geschützten Eingang an der Nordseite besaß. Im Inneren dieser Halle
wurden zahlreiche Fragmente von Wandmalereien geborgen. Es könnte sich
hierbei um eine in vielen Heiligtümern übliche Mehrzweckstoa, die
zugleich als Raum für Weihgeschenke diente, handeln.
Östlich der Halle wurden zwei Gruben festgestellt, in denen Kultinventar
vergraben worden war. In einer starken Brandschicht fand sich viel Keramik,
auch einheimische Schwarztonware, dazu wurden Glasscherben, Nägel, Knochen,
Dachziegelreste, in unendlich kleine Splitter zerschlagene Fragmente von Kalksteinskulpturen
und ein Weihestein mit Brunnenauslass und Widmung an Noreia Augusta geborgen.
Die älteste von sechs erhaltenen Inschriften für
Noreia wurde von einem Chrysanthus, servus vicarius des Kaisers Claudius, gesetzt.
Die stark zerstörte Inschrift eines weiteren kaiserlichen Sklaven wird
allgemein in das späte 1. Jh. gesetzt. Das in einer Weihinschrift beschriebene,
leider verlorene Weihgeschenk einer kostbaren Silberschale mit goldenem Bild
der Noreia des aus Rom stammenden Reiterunteroffiziers Q. Fabius Modestus, decurio
der ala I Augusta Thracum, muss nach dem Vierkaiserjahr entstanden sein und
gehört am ehesten in das frühe bis mittlere 2. Jh. Dieselbe Datierung
darf für die in einer der beiden Bergegruben gefundene Weihung auf einem
als Wasserauslass dienenden Steinblock (Abb. 8) als wahrscheinlich angegeben
werden. Am ehesten rann das Wasser aus dem im Stein befestigten Rohr in ein
davor stehendes Becken, ob dieses aber in kultischer Verwendung stand oder nur
der Säuberung vor dem Betreten des Heiligtums diente, kann nicht gesagt
werden.
Der offene, ummauerte Bezirk war nach den Weihungen an Noreia also mindestens
seit der Mitte des 1. Jh. n. Chr. in Betrieb und diente – wie auch in
anderen Heiligtümern üblich – außerdem der Verehrung anderer
Gottheiten. So wurden hier die Köpfe kleinformatiger Statuen des Eros und
des Attis sowie ein weiblicher Kopf mit Mauerkrone, am ehesten einer Magna Mater,
gefunden. Auf einem nur 0,11 m breiten, primitiv ausgeführten Kalksteinrelief
der Minerva aus dem Tempelareal wird diese Göttin auch inschriftlich genannt.
Aus
hadrianischer Zeit besitzen wir die leider nur noch teilweise erhaltene Bauurkunde
des Tempels, die eine Widmung an den Provinzstatthalter Claudius Paternus Clementianus
enthält. Zwar fehlt der Name der Gottheit vollständig, die Ergänzung
[Noreiae Au]g(ustae) ist jedoch insofern als sicher zu werten, als die Verehrung
keiner anderen Gottheit im engeren Tempelbereich durch Weihaltäre bezeugt
wird und das Tempelgebäude selbst daher wohl nur dem Kult der Noreia gedient
haben kann. Die Inschrift erwähnt den Bau von cella, columnae, pavimenta
und porticus. Vom Namen des Bauherrn sind nur wenige Buchstaben erhalten, die
zum nomen gentile Sabi[nius] ergänzt werden können. Da die Sabinii
in Virunum als duumviri („Bürgermeister“) mehrfach bezeugt
sind und in ihrem Hauptzweig anscheinend dem Ritterstand angehörten, da
außerdem eines der Familienoberhäupter im mittleren 2. Jh., Sabinius
Veranus, als Teilpächter des illyrischen Zolls bekannt ist, wird man jedenfalls
einen Angehörigen dieser Familie – eventuell sogar diesen Veranus
selbst –als Bauherrn ansprechen dürfen.
Auch die Bergwerksverwaltung scheint eine besondere Affinität zum Noreiakult
in Hohenstein besessen zu haben, wie eine sicherlich vor Kaiser Marcus Aurelius,
am ehesten in der ersten Hälfte des 2. Jh.s entstandene Weihinschrift eines
procurator ferrariarum (Eisenbergwerksverwalter) Q. Septueius Valens zu Ehren
des ihm verwandten conductor (Pächter der öffentlichen Eisenbergwerke)
Q. Septueius Clemens und zweier anderer, von diesem eingesetzter procuratores
zeigt. Die Göttin wurde hier nicht wie auf den übrigen Inschriften
aus Hohenstein einfach Noreia genannt, sondern als Isis Noreia bezeichnet.
Eine
Architravinschrift auf dem in Sichtweite des Heiligtums gelegenen Ulrichsberg
nennt Noreia Isis F[ortuna?]. Sie wurde anscheinend entweder in der Spätantike
für den Bau einer Höhensiedlung des 5./6. Jh.s oder im Mittelalter
aus Hohenstein entnommen und auf den Berg transportiert und dient in letzter
Verwendung als Türsturz in der gotischen Kirche. Als Bauherr ist ein gewisser
A(ulus) Trebonius [- - -] / proc(urator) ausgewiesen. Von ihm nimmt die Forschung
an, dass er identisch mit einem Ritter namens A(ulus) Trebonius Garutianus,
procurator im Jahr 68 in der Provinz Africa, sei und in Noricum unter den flavischen
Kaisern als procurator Augusti, also als Provinzstatthalter, fungiert habe.
Es kann sich bei ihm aber auch um einen Bergwerksverwalter gehandelt haben,
wie bei dem Stifter der oben erwähnten Inschrift, Q(uintus) Septueius Valens.
Relativ sicher ist durch diese Bauinschrift zumindest, dass in Hohenstein durch
Aulus Trebonius in den letzten Jahrzehnten des 1. Jh.s ein erster Tempelbau
errichtet bzw. fertig gestellt worden sein dürfte. Dabei kann es sich durchaus
auch nur um eine größere Aedikula oder einen einfachen kleinen Antentempel
gehandelt haben, da die wahrscheinliche Ergänzung der Inschrift bei einer
Architravlänge von etwa 3 m leicht untergebracht werden kann.
Die bemerkenswerte Gleichsetzung der Regionalgöttin Noreia mit Isis kann
einerseits mit der unter dem flavischen Kaisern und erneut unter Hadrian bevorzugten
Verehrung der ursprünglichen ägyptischen Hauptgöttin und Landesmutter
zusammen hängen, andererseits mit einer gewissen, auch in Oberitalien nachweisbaren
Affinität der römischen Bergwerksgesellschaften zu Isis.
Nach dieser Vorstellung aller bisher bekannten Funde kultischen
Charakters, die sicher oder wahrscheinlich zum Heiligtum von Hohenstein gehören,
ergibt sich folgendes Bild: Vorrömische Bauphasen oder auch nur Spuren
einer Begehung des Geländes vor Claudius wurden bei den bisherigen, leider
nicht abgeschlossenen Ausgrabungen nicht festgestellt. Der Kult der Noreia ist
inschriftlich seit Claudius nachweisbar. Ein erster Tempel wurde am ehesten
unter den flavischen Kaisern, möglicherweise bereits früh unter Vespasian
(69–79), errichtet, wenn die Zuweisung der Architravinschrift vom Ulrichsberg
an Hohenstein akzeptiert wird. Dieser könnte durchaus noch innerhalb des
umfriedeten Platzes errichtet worden sein, insbesondere, wenn der der Noreia
gewidmete Zugangsbrunnen nach dem Fundort seiner Weihinschrift tatsächlich
an der Westseite des Platzes vor der an diesen angebauten Halle lag. Unter Hadrian
kam es zur Hervorhebung des Noreiakultes und zu seiner räumlichen Absetzung
durch den Bau eines in seinen Abmessungen immer noch bescheidenen Podiumstempels
mit dreiseitiger Hofhallenanlage außerhalb des seit fast einem Jahrhundert
bestehenden Temenos. Bei beiden Tempelbauten fungierten procuratores Augusti
oder ihnen nahe stehende Personen als Bauherren. Frühestens unter Vespasian
wurde Noreia, wohl als politische Loyalitätsadresse, mit Isis in Verbindung
gebracht, später wurde von der Eisengrubenverwaltung diese Gleichsetzung,
vielleicht wegen der besonderen Funktion der Isis als Schutzgöttin des
Bergbaues, übernommen. Die Verbindung von Noreia und Isis blieb aber auf
diese beiden speziellen Fälle beschränkt und fand in zeitgleichen
oder jüngeren Weihungen anderer Stifter keine Nachahmung.
Alle bisher aus Inschriften bekannten Kultträger waren ortsfremde Angehörige
der Reichsverwaltung bzw. des Militärs oder gehörten zu den mit der
Provinzverwaltung eng verquickten Familien, die die Zoll- und Eisengrubenpacht
innehatten. Unter den Verehrern der Noreia lassen sich somit keine Privatpersonen
und niemand, der in irgend einer Weise als einheimischer Noriker zu bezeichnen
wäre, nachweisen. Zum offiziösen Charakter der Inschriften passt,
dass keine (Ehe)-Frauen und Kinder begegnen und auch nicht — wie sonst
regelmäßig nachweisbar — als Mitweihende genannt werden.
Die Einstellung des Kultbetriebes in Hohenstein fand frühestens in der
zweiten Hälfte des 2. Jh.s statt; aus späterer Zeit konnten keine
datierbaren Kultobjekte festgestellt werden. Dieser Umstand könnte mit
der Abwanderung der meisten Reichsbeamten von Virunum nach Lauriacum, an die
Donaugrenze, in den letzten Jahren der Regierungszeit des Marcus Aurelius zusammen
hängen. Im Zuge der Markomannenkriege war ab 171 n.Chr. in Noricum die
legio II Italica stationiert worden, die zuerst in Locica in Nordslowenien,
dann in Albing an der Ennsmündung ihr Lager hatte und spätestens um
das Jahr 200 ihren endgültigen Stationsort Lauriacum bei Enns bezog. Ihr
Kommandant war nunmehr gleichzeitig auch Provinzstatthalter. Außerdem
wurden im Zuge einer Verwaltungsreform die Zoll- und Bergwerkspacht abgeschafft
und diese wichtigen Einnahmequellen unter direkte staatliche Verwaltung gestellt.
Damit wurde dem Noreiaheiligtum sein Publikum – römische Militärs,
Beamte und Pächter – entzogen.
Dafür sind von verschiedenen Militärangehörigen – einem
Tribun, einem Centurio, Reiterdecurionen, Benefiziariern, kaiserlichen Gardereitern
– sowie kaiserlichen Zollsklaven von der Mitte des 2. bis zur Mitte des
3. Jh.s, im Territorium von Celeia, am Inn in Oberösterreich, in Rom selbst
und sogar in der Provinz Mauretania Caesariensis, wo vorübergehend in Noricum
stationierte Truppen tätig waren, Weihinschriften für Noreia gesetzt
worden. Dies zeigt, dass sich die römische Verwaltung und vor allem die
Armee in Noricum neben ihren angestammten Gottheiten unter den speziellen Schutz
der Noreia gestellt hatte und diese Tradition auch nach der Verödung des
Heiligtums in Hohenstein weiterführte.
In all diesen Fällen tritt Noreia als Personifikation der Provinz auf,
wie sich besonders an einer Benefiziarierweihung aus Celeia an der Abfolge der
angerufenen Gottheiten Iuppiter – Noreia – Celeia ablesen lässt:
Iuppiter steht für das Imperium, Noreia für die Provinz, Celeia für
den Stationsort. Genau so ist Noreia auch in der Weihung kaiserlicher Zollsklaven
aus Atrans (heute: Trojane), einer Grenzstation zu Italien, zu sehen, die Norei(a)e
Aug(ustae) et Honori stat(ionis) Atrant(inae) stifteten. Eine nur aus vier Götternamen
bestehende Inschrift aus Celeia nennt Noreia gemeinsam mit den militärischen
Schutzgottheiten Mars, Hercules und Victoria. Noreia wurde also insgesamt ausschließlich
mit Reichsgottheiten, die — abgesehen vom obersten Gott Iuppiter —
vorwiegend militärischen Charakter aufweisen bzw. zur kaiserzeitlichen
Loyalitätsreligion gehören oder mit anderen Ortspersonifikationen
zusammen angerufen.
Gegenüber der gut nachweisbaren Verehrung der Gottheit durch Reichsbeamte
und Militärs spricht das völlige Fehlen von Inschriften für Noreia
von Privatpersonen oder nachweisbar einheimischen Norikern gegen die bisher
in der Forschung bevorzugte Deutung der Göttin als altnorische Landesmutter
keltischer oder gar vorkeltischer Prägung. Vielmehr könnte es sich
um eine römische Neuschöpfung handeln. Noreia ist als Benennung der
Provinzpersonifikation für Noricum möglicherweise ausgewählt
worden, weil der ausnahmsweise im genus neutrale, vom alten regnum Noricum abgeleitete
Provinzname Noricum für die direkte Übernahme durch ein göttliches,
unbedingt weiblich zu denkendes numen ungeeignet war. Einerseits war die Benennung
Noreia ähnlich genug um, die gewünschte Assoziation zu Noricum automatisch
herzustellen, andererseits stand der Name der von römischen Schriftstellern
mehrfach genannten Stadt Noreia hier Pate. Diese war noch vor der Provinzialisierung
des Ostalpenraumes, wahrscheinlich schon vor oder spätestens während
des Alpenfeldzuges 16/15 v.Chr. untergegangen oder aufgegeben worden. Ihr Name
stand aber als Symbol für „uralte“ römisch-norische Waffenbrüderschaft,
die sich nach der Kimbernschlacht des Jahres 113 apud Noreiam auch im 1. Jh.
v.Chr. im Abwehrkampf gegen die Boier, die Noreia belagert hatten, und im Hilfsangebot
eines norischen Fürsten an Caesar im Bürgerkrieg manifestiert hatte
oder zumindest nachträglich als solche darstellen ließ. Ansonsten
aber bedeutet Noreia wohl nicht viel mehr als die sonst nachweisbaren vergöttlichten
Landschafts- bzw. Provinzbezeichnungen wie etwa Gallia, Dacia, Britannia sancta,
Histria Terra oder Terra Corsica.
In welcher Form auch immer Rom seit augusteischer Zeit seine Macht in Noricum
zur Geltung gebracht hatte, Einigkeit herrscht im wesentlichen darüber,
dass die Okkupation ohne bedeutende Kriegshandlungen, also auf mehr oder minder
freiwilliger Basis seitens der Noriker, erfolgt war. Trotzdem dürften die
wichtigsten Bergwerke wohl schon seit der Okkupation vom fiscus verwaltet und
die führenden Noriker damit einer wichtigen Einkommensquelle beraubt worden
sein. Spätestens unter Kaiser Claudius gab Rom jedenfalls dem regnum Noricum
Provinzialstatus, dabei ergab sich wohl die ideale Gelegenheit, den Provinzialen
den sozusagen offiziellen wie auch endgültigen Eintritt in das römische
Reich schmackhaft zu machen. Als ein Ausdruck dafür ist die Erhebung von
fünf bedeutenden norischen Siedlungen zu autonomen Munizipien anzusehen,
wodurch der jeweiligen Bevölkerung, vor allem den vielen eingewanderten
Italikern, eine gewisse Selbstverwaltung zugestanden wurde. Damit wurde aber
auch der sonst fast nur über den 25-jährigen Auxiliardienst mögliche
Zutritt zur civitas Romana für die finanziell besser gestellten Provinzialen
erleichtert, da sie munizipale Ämter annehmen und so in den ordo decurionum
aufsteigen konnten.
Während in sonst frisch eroberten bzw. provinzialisierten Gebieten von
Rom gerne der Kult der dea Roma und/oder des Augustus bzw. des jeweils regierenden
Kaisers eingerichtet wurde, den Priester aus der einheimischen Aristokratie
zu versehen hatten, dürfte in Noricum ein genau umgekehrter Vorgang stattgefunden
haben. Aufgrund Jahrhunderte langer freundschaftlicher Verbindung, dem so genannten
hospitium publicum, zwischen der res publica Romana und dem regnum Noricum setzte
Rom, nachdem Noricum in das imperium Romanum einverleibt worden war, anscheinend
einen symbolischen Akt des Respekts und der Verbundenheit mit der Einführung
des Kultes der Noreia als Provinzgottheit, dessen Betreuung den römischen
Beamten und Militärs oblag.
Peter Scherrer
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