Kulte in Noricum, am Beispiel des Heiligtums der Noreia in Hohenstein

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Einleitung: Allgemeines zu Kultbauten in Noricum

Die Forschungssituation zu Kultanlagen in der Provinz Noricum ist allgemein derzeit wenig befriedigend. Die meisten bekannten Heiligtümer wurden bereits vor dem 1. Weltkrieg oder in der Zwischenkriegszeit ausgegraben. Die diesbezüglichen Berichte sind aufgrund der damaligen wirtschaftlichen Situation knapp gehalten und geben neben einer Darstellung der wichtigsten Funde kaum Informationen über den Grundriss hinaus. Andererseits wurden seit 2004 mehrere Heiligtümer in Südnoricum entdeckt bzw. altbekannte Befunde neu untersucht, wie etwa drei Umgangstempel in Celje und ein Umgangstempel auf der Gurina im Kärntner Gailtal, ein Podiumstempel in umgebenden Hallenanlagen mit Exedren für Hercules auf dem Zollfeld nahe Virunum oder der 2006 auf dem Gipfel der Händlersiedlung auf dem Magdalensberg festgestellte Podiumstempel vor- oder frühaugusteischer Zeit. Hierfür liegen nur kurze Vorberichte vor oder befinden sich gar erst im Druck.
Die innerstädtischen Tempelanlagen und Heiligtümer Noricums werden im Kapitel über die Städte ausführlich besprochen und können hier zusammenfassend dargestellt werden. In Virunum und Celeia sind jeweils – in den Substruktionen dreigeteilte – Podiumstempel in einer eigenen area sacra am Forum bekannt, die allgemein als Capitolia angesprochen werden, obwohl es dafür keine unterstützenden Funde wie Kultstatuen oder Inschriften gibt. In Celeia wurden aber in unmittelbarer Nähe ein kolossaler Kopf und weitere Teile von einer Kultstatue im Typ des Apollo gefunden, weswegen der Haupttempel der Stadt eher diesem Gott, vielleicht in einer lokalen Variante als Apollo Belinus oder Apollo Grannus gehört haben dürfte. Für Belinus, der nach dem christlichen Schriftsteller Tertullian der Hauptgott der Noriker war, wurde erst vor kurzem erstmals eine Weihinschrift in Celeia gefunden. Grannus besaß in Teurnia beim Forum ein als navale bezeichnetes Heiligtum, von dem bisher nur die Bauinschrift bekannt ist.


In Iuvavum wurde in der Nachkriegszeit im dicht verbauten Gebiet der Salzburger Altstadt der Grundriss eines Ringhallentempels nachgewiesen, des einzigen dieser Art in der Provinz Noricum bisher. Nach zahlreichen Statuenfragmenten und Weihinschriften war dieser Tempel dem Heilgott Aesculapius, den der griechische Mythos als Sohn des Apollo kennzeichnet, und seiner Kultgenossin Hygieia geweiht. In den anderen norischen Munizipien sind bisher keine offiziellen innerstädtischen Kultbauten bekannt geworden. Da in Noricum zwar über 100 Weihinschriften für Iuppiter Optimus Maximus, den obersten römischen Staatsgott vorliegen, davon aber nur zwei der Kapitolinischen Trias (Iuppiter, Iuno und Minerva) gelten, und Munizipien in der Wahl ihres lokalen Hauptgottes frei waren, ist die Kapitolsthese für Celeia und Virunum jedenfalls zu hinterfragen. Nach dem Beispiel von Teurnia und Iuvavum würde man eher eine mit Apollo in Zusammenhang stehende Heilgottheit erwarten.
Darüber hinaus besaßen mehrere Städte in unmittelbarer Stadtrandlage bzw. im Zentrum der latènezeitlichen Vorgängersiedlung Podiumstempel, die in Celeia (Miklavski hrb – Nikolausberg) und Virunum (St. Michael auf dem Zollfeld) mit Hercules und dem Kaiserkult in Verbindung standen. Auf dem Frauenberg bei Flavia Solva war ein Podiumstempel mit Apsis der Isis geweiht, vielleicht ein weiterer Kultbau dem Mars Latobius.
In den kleineren Siedlungen am Land scheint der gallorömische Umgangstempel eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Derartige Kultbauten mit einem auf vier Seiten von Hallen (Umgängen) umgebenen Zentralraum gelten in der Forschung mehrheitlich als Produkte der gallorömischen Mischkultur, andere Wissenschafter sehen deren Entwicklung in Britannien und Gallien allerdings schon vor der römischen Okkupation. In Noricum ist, neben den Neufunden am Stadtrand von Celeia, nur ein erst im (frühen?) 3. Jh. über einem zusammengestürzten Vorgängerbau errichteter und als navale bezeichneter Umgangstempel auf dem Burgstall im Lavanttal in Unterkärnten baulich und inschriftlich gesichert. Er war dem lokalen, mit Mars verwandten Gott Latobius geweiht, in seinem Bereich waren aber auch Weihinschriften und Statuen des Iuppiter aufgestellt.
In einer Weihinschrift aus dem Gebiet um Flavia Solva wird der auch in Südwestpannonien und Nordostnoricum unter dem Namen Marmogius verehrte Gott als Mars Latobius Marmogius Toutates Sinates Mogetius angerufen.

 

Das Heiligtum der Noreia in Hohenstein

Von besonderem Interesse ist in Noricum für Fragen der Transformation das für die lokale Göttin Noreia errichtete Heiligtum. Es lag im Zentrum eines wegen der hier intensiv geübten Eisenverarbeitung wirtschaftlich zentralen Gebietes, nahe Schloss Hohenstein bei Pulst im Glantal in Kärnten, nur wenige Wegstunden entfernt von Virunum.

Der bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt gewordene und 1895 erstmals ausgegrabene Tempel wurde 1932/33 neuerlich untersucht. Eine Publikation der Kleinfunde unterblieb damals jedoch und ist nach deren Verschwinden durch Diebstahl nicht mehr möglich. Eine Testgrabung 2004 erbrachte späte südgallische Terra sigillata in den Fundamentgräben und bestätigte stratigraphisch das aus der fragmentarisch erhaltenen Bauinschrift und den Resten der Bauornamentik vermutete Errichtungsdatum in hadrianischer Zeit (117–138).
Der Bau stellte sich bei der Ausgrabung als ungefähr Nordnordwest-Südsüdost orientierter, eher kleiner Podiumsstempel (Außenmaße 12,50m × 7,30m) dar, der an drei Seiten im lichten Abstand von ca. 4,5–5,5 m von einer etwa 3m breiten, mit Dachziegeln gedeckten Porticus umgeben wurde. Die Südseite des Tempels als Eingangsseite besaß eine vorgelegte Freitreppe, die zum Tempel hinaufführte. Die Tiefe des Treppenfundamentblocks von 1,9 m läßt auf ein 1,2–1,8 m hohes Podium schließen. Das aus vermörtelten Bruchsteinen errichtete Tempelgebäude selbst war zweigeteilt, wobei die Vorhalle (4,3 × 2,5 m) etwas mehr als die halbe Tiefe der nördlich anschließenden cella (4,3 × 4,1 m) aufwies. Die Größenverhältnisse der Fundamente lassen erkennen, dass der Tempel die Form eines wohl tetrastylen Prostylos hatte, wobei die durchschnittliche Jochbreite an der Front bei 2,3 m läge, eher aber das Mitteljoch betont war. Der anzunehmende Altar dürfte in die zum Tempel hinaufführende Treppe integriert worden sein, da ein zu jenem gehöriges Fundament am Fuß der Stiegenanlage nicht existierte. An die Nordmauer der cella schloss ein Fundament an, welches das Kultbild — von dem sich allerdings keine Reste mehr fanden — getragen haben könnte.
Südlich des Tempels umschloss eine Mauer einen heiligen Bezirk in der Form eines etwas verzogenen, dem Quadrat nahestehenden Rechtecks (Längen zw. 24,60 m und 30,90 m). Die auf einer künstlichen Terrassierung errichtete Südmauer dürfte abgestürzt sein, von ihr fanden sich keine Reste mehr, ihre Lage lässt sich aber ungefähr ermitteln. An die Innenseite der Nordmauer lehnte sich ein Gussfundament (2 m × 3 m) an. Ein kleiner Einbau befand sich derart in der Nordostecke der Umfassung, dass zwei seiner vier Mauern von dieser gebildet wurden. Weitere Reste von Mauern im Inneren der Umfriedung lassen auf die Existenz zusätzlicher, vielleicht kapellenartigen Baulichkeiten schließen.
An die Ostwand der großen Umfassungsmauer war an deren Außenseite eine Halle (mind. 16,5 m × 5 m) angesetzt, welche einen durch einen Windfang geschützten Eingang an der Nordseite besaß. Im Inneren dieser Halle wurden zahlreiche Fragmente von Wandmalereien geborgen. Es könnte sich hierbei um eine in vielen Heiligtümern übliche Mehrzweckstoa, die zugleich als Raum für Weihgeschenke diente, handeln.
Östlich der Halle wurden zwei Gruben festgestellt, in denen Kultinventar vergraben worden war. In einer starken Brandschicht fand sich viel Keramik, auch einheimische Schwarztonware, dazu wurden Glasscherben, Nägel, Knochen, Dachziegelreste, in unendlich kleine Splitter zerschlagene Fragmente von Kalksteinskulpturen und ein Weihestein mit Brunnenauslass und Widmung an Noreia Augusta geborgen.

Die älteste von sechs erhaltenen Inschriften für Noreia wurde von einem Chrysanthus, servus vicarius des Kaisers Claudius, gesetzt. Die stark zerstörte Inschrift eines weiteren kaiserlichen Sklaven wird allgemein in das späte 1. Jh. gesetzt. Das in einer Weihinschrift beschriebene, leider verlorene Weihgeschenk einer kostbaren Silberschale mit goldenem Bild der Noreia des aus Rom stammenden Reiterunteroffiziers Q. Fabius Modestus, decurio der ala I Augusta Thracum, muss nach dem Vierkaiserjahr entstanden sein und gehört am ehesten in das frühe bis mittlere 2. Jh. Dieselbe Datierung darf für die in einer der beiden Bergegruben gefundene Weihung auf einem als Wasserauslass dienenden Steinblock (Abb. 8) als wahrscheinlich angegeben werden. Am ehesten rann das Wasser aus dem im Stein befestigten Rohr in ein davor stehendes Becken, ob dieses aber in kultischer Verwendung stand oder nur der Säuberung vor dem Betreten des Heiligtums diente, kann nicht gesagt werden.
Der offene, ummauerte Bezirk war nach den Weihungen an Noreia also mindestens seit der Mitte des 1. Jh. n. Chr. in Betrieb und diente – wie auch in anderen Heiligtümern üblich – außerdem der Verehrung anderer Gottheiten. So wurden hier die Köpfe kleinformatiger Statuen des Eros und des Attis sowie ein weiblicher Kopf mit Mauerkrone, am ehesten einer Magna Mater, gefunden. Auf einem nur 0,11 m breiten, primitiv ausgeführten Kalksteinrelief der Minerva aus dem Tempelareal wird diese Göttin auch inschriftlich genannt.


Aus hadrianischer Zeit besitzen wir die leider nur noch teilweise erhaltene Bauurkunde des Tempels, die eine Widmung an den Provinzstatthalter Claudius Paternus Clementianus enthält. Zwar fehlt der Name der Gottheit vollständig, die Ergänzung [Noreiae Au]g(ustae) ist jedoch insofern als sicher zu werten, als die Verehrung keiner anderen Gottheit im engeren Tempelbereich durch Weihaltäre bezeugt wird und das Tempelgebäude selbst daher wohl nur dem Kult der Noreia gedient haben kann. Die Inschrift erwähnt den Bau von cella, columnae, pavimenta und porticus. Vom Namen des Bauherrn sind nur wenige Buchstaben erhalten, die zum nomen gentile Sabi[nius] ergänzt werden können. Da die Sabinii in Virunum als duumviri („Bürgermeister“) mehrfach bezeugt sind und in ihrem Hauptzweig anscheinend dem Ritterstand angehörten, da außerdem eines der Familienoberhäupter im mittleren 2. Jh., Sabinius Veranus, als Teilpächter des illyrischen Zolls bekannt ist, wird man jedenfalls einen Angehörigen dieser Familie – eventuell sogar diesen Veranus selbst –als Bauherrn ansprechen dürfen.
Auch die Bergwerksverwaltung scheint eine besondere Affinität zum Noreiakult in Hohenstein besessen zu haben, wie eine sicherlich vor Kaiser Marcus Aurelius, am ehesten in der ersten Hälfte des 2. Jh.s entstandene Weihinschrift eines procurator ferrariarum (Eisenbergwerksverwalter) Q. Septueius Valens zu Ehren des ihm verwandten conductor (Pächter der öffentlichen Eisenbergwerke) Q. Septueius Clemens und zweier anderer, von diesem eingesetzter procuratores zeigt. Die Göttin wurde hier nicht wie auf den übrigen Inschriften aus Hohenstein einfach Noreia genannt, sondern als Isis Noreia bezeichnet.
Eine Architravinschrift auf dem in Sichtweite des Heiligtums gelegenen Ulrichsberg nennt Noreia Isis F[ortuna?]. Sie wurde anscheinend entweder in der Spätantike für den Bau einer Höhensiedlung des 5./6. Jh.s oder im Mittelalter aus Hohenstein entnommen und auf den Berg transportiert und dient in letzter Verwendung als Türsturz in der gotischen Kirche. Als Bauherr ist ein gewisser A(ulus) Trebonius [- - -] / proc(urator) ausgewiesen. Von ihm nimmt die Forschung an, dass er identisch mit einem Ritter namens A(ulus) Trebonius Garutianus, procurator im Jahr 68 in der Provinz Africa, sei und in Noricum unter den flavischen Kaisern als procurator Augusti, also als Provinzstatthalter, fungiert habe. Es kann sich bei ihm aber auch um einen Bergwerksverwalter gehandelt haben, wie bei dem Stifter der oben erwähnten Inschrift, Q(uintus) Septueius Valens.
Relativ sicher ist durch diese Bauinschrift zumindest, dass in Hohenstein durch Aulus Trebonius in den letzten Jahrzehnten des 1. Jh.s ein erster Tempelbau errichtet bzw. fertig gestellt worden sein dürfte. Dabei kann es sich durchaus auch nur um eine größere Aedikula oder einen einfachen kleinen Antentempel gehandelt haben, da die wahrscheinliche Ergänzung der Inschrift bei einer Architravlänge von etwa 3 m leicht untergebracht werden kann.
Die bemerkenswerte Gleichsetzung der Regionalgöttin Noreia mit Isis kann einerseits mit der unter dem flavischen Kaisern und erneut unter Hadrian bevorzugten Verehrung der ursprünglichen ägyptischen Hauptgöttin und Landesmutter zusammen hängen, andererseits mit einer gewissen, auch in Oberitalien nachweisbaren Affinität der römischen Bergwerksgesellschaften zu Isis.


Noreia –römische Neuschöpfung oder altkeltische Muttergottheit

Nach dieser Vorstellung aller bisher bekannten Funde kultischen Charakters, die sicher oder wahrscheinlich zum Heiligtum von Hohenstein gehören, ergibt sich folgendes Bild: Vorrömische Bauphasen oder auch nur Spuren einer Begehung des Geländes vor Claudius wurden bei den bisherigen, leider nicht abgeschlossenen Ausgrabungen nicht festgestellt. Der Kult der Noreia ist inschriftlich seit Claudius nachweisbar. Ein erster Tempel wurde am ehesten unter den flavischen Kaisern, möglicherweise bereits früh unter Vespasian (69–79), errichtet, wenn die Zuweisung der Architravinschrift vom Ulrichsberg an Hohenstein akzeptiert wird. Dieser könnte durchaus noch innerhalb des umfriedeten Platzes errichtet worden sein, insbesondere, wenn der der Noreia gewidmete Zugangsbrunnen nach dem Fundort seiner Weihinschrift tatsächlich an der Westseite des Platzes vor der an diesen angebauten Halle lag. Unter Hadrian kam es zur Hervorhebung des Noreiakultes und zu seiner räumlichen Absetzung durch den Bau eines in seinen Abmessungen immer noch bescheidenen Podiumstempels mit dreiseitiger Hofhallenanlage außerhalb des seit fast einem Jahrhundert bestehenden Temenos. Bei beiden Tempelbauten fungierten procuratores Augusti oder ihnen nahe stehende Personen als Bauherren. Frühestens unter Vespasian wurde Noreia, wohl als politische Loyalitätsadresse, mit Isis in Verbindung gebracht, später wurde von der Eisengrubenverwaltung diese Gleichsetzung, vielleicht wegen der besonderen Funktion der Isis als Schutzgöttin des Bergbaues, übernommen. Die Verbindung von Noreia und Isis blieb aber auf diese beiden speziellen Fälle beschränkt und fand in zeitgleichen oder jüngeren Weihungen anderer Stifter keine Nachahmung.
Alle bisher aus Inschriften bekannten Kultträger waren ortsfremde Angehörige der Reichsverwaltung bzw. des Militärs oder gehörten zu den mit der Provinzverwaltung eng verquickten Familien, die die Zoll- und Eisengrubenpacht innehatten. Unter den Verehrern der Noreia lassen sich somit keine Privatpersonen und niemand, der in irgend einer Weise als einheimischer Noriker zu bezeichnen wäre, nachweisen. Zum offiziösen Charakter der Inschriften passt, dass keine (Ehe)-Frauen und Kinder begegnen und auch nicht — wie sonst regelmäßig nachweisbar — als Mitweihende genannt werden.
Die Einstellung des Kultbetriebes in Hohenstein fand frühestens in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s statt; aus späterer Zeit konnten keine datierbaren Kultobjekte festgestellt werden. Dieser Umstand könnte mit der Abwanderung der meisten Reichsbeamten von Virunum nach Lauriacum, an die Donaugrenze, in den letzten Jahren der Regierungszeit des Marcus Aurelius zusammen hängen. Im Zuge der Markomannenkriege war ab 171 n.Chr. in Noricum die legio II Italica stationiert worden, die zuerst in Locica in Nordslowenien, dann in Albing an der Ennsmündung ihr Lager hatte und spätestens um das Jahr 200 ihren endgültigen Stationsort Lauriacum bei Enns bezog. Ihr Kommandant war nunmehr gleichzeitig auch Provinzstatthalter. Außerdem wurden im Zuge einer Verwaltungsreform die Zoll- und Bergwerkspacht abgeschafft und diese wichtigen Einnahmequellen unter direkte staatliche Verwaltung gestellt. Damit wurde dem Noreiaheiligtum sein Publikum – römische Militärs, Beamte und Pächter – entzogen.
Dafür sind von verschiedenen Militärangehörigen – einem Tribun, einem Centurio, Reiterdecurionen, Benefiziariern, kaiserlichen Gardereitern – sowie kaiserlichen Zollsklaven von der Mitte des 2. bis zur Mitte des 3. Jh.s, im Territorium von Celeia, am Inn in Oberösterreich, in Rom selbst und sogar in der Provinz Mauretania Caesariensis, wo vorübergehend in Noricum stationierte Truppen tätig waren, Weihinschriften für Noreia gesetzt worden. Dies zeigt, dass sich die römische Verwaltung und vor allem die Armee in Noricum neben ihren angestammten Gottheiten unter den speziellen Schutz der Noreia gestellt hatte und diese Tradition auch nach der Verödung des Heiligtums in Hohenstein weiterführte.
In all diesen Fällen tritt Noreia als Personifikation der Provinz auf, wie sich besonders an einer Benefiziarierweihung aus Celeia an der Abfolge der angerufenen Gottheiten Iuppiter – Noreia – Celeia ablesen lässt: Iuppiter steht für das Imperium, Noreia für die Provinz, Celeia für den Stationsort. Genau so ist Noreia auch in der Weihung kaiserlicher Zollsklaven aus Atrans (heute: Trojane), einer Grenzstation zu Italien, zu sehen, die Norei(a)e Aug(ustae) et Honori stat(ionis) Atrant(inae) stifteten. Eine nur aus vier Götternamen bestehende Inschrift aus Celeia nennt Noreia gemeinsam mit den militärischen Schutzgottheiten Mars, Hercules und Victoria. Noreia wurde also insgesamt ausschließlich mit Reichsgottheiten, die — abgesehen vom obersten Gott Iuppiter — vorwiegend militärischen Charakter aufweisen bzw. zur kaiserzeitlichen Loyalitätsreligion gehören oder mit anderen Ortspersonifikationen zusammen angerufen.
Gegenüber der gut nachweisbaren Verehrung der Gottheit durch Reichsbeamte und Militärs spricht das völlige Fehlen von Inschriften für Noreia von Privatpersonen oder nachweisbar einheimischen Norikern gegen die bisher in der Forschung bevorzugte Deutung der Göttin als altnorische Landesmutter keltischer oder gar vorkeltischer Prägung. Vielmehr könnte es sich um eine römische Neuschöpfung handeln. Noreia ist als Benennung der Provinzpersonifikation für Noricum möglicherweise ausgewählt worden, weil der ausnahmsweise im genus neutrale, vom alten regnum Noricum abgeleitete Provinzname Noricum für die direkte Übernahme durch ein göttliches, unbedingt weiblich zu denkendes numen ungeeignet war. Einerseits war die Benennung Noreia ähnlich genug um, die gewünschte Assoziation zu Noricum automatisch herzustellen, andererseits stand der Name der von römischen Schriftstellern mehrfach genannten Stadt Noreia hier Pate. Diese war noch vor der Provinzialisierung des Ostalpenraumes, wahrscheinlich schon vor oder spätestens während des Alpenfeldzuges 16/15 v.Chr. untergegangen oder aufgegeben worden. Ihr Name stand aber als Symbol für „uralte“ römisch-norische Waffenbrüderschaft, die sich nach der Kimbernschlacht des Jahres 113 apud Noreiam auch im 1. Jh. v.Chr. im Abwehrkampf gegen die Boier, die Noreia belagert hatten, und im Hilfsangebot eines norischen Fürsten an Caesar im Bürgerkrieg manifestiert hatte oder zumindest nachträglich als solche darstellen ließ. Ansonsten aber bedeutet Noreia wohl nicht viel mehr als die sonst nachweisbaren vergöttlichten Landschafts- bzw. Provinzbezeichnungen wie etwa Gallia, Dacia, Britannia sancta, Histria Terra oder Terra Corsica.
In welcher Form auch immer Rom seit augusteischer Zeit seine Macht in Noricum zur Geltung gebracht hatte, Einigkeit herrscht im wesentlichen darüber, dass die Okkupation ohne bedeutende Kriegshandlungen, also auf mehr oder minder freiwilliger Basis seitens der Noriker, erfolgt war. Trotzdem dürften die wichtigsten Bergwerke wohl schon seit der Okkupation vom fiscus verwaltet und die führenden Noriker damit einer wichtigen Einkommensquelle beraubt worden sein. Spätestens unter Kaiser Claudius gab Rom jedenfalls dem regnum Noricum Provinzialstatus, dabei ergab sich wohl die ideale Gelegenheit, den Provinzialen den sozusagen offiziellen wie auch endgültigen Eintritt in das römische Reich schmackhaft zu machen. Als ein Ausdruck dafür ist die Erhebung von fünf bedeutenden norischen Siedlungen zu autonomen Munizipien anzusehen, wodurch der jeweiligen Bevölkerung, vor allem den vielen eingewanderten Italikern, eine gewisse Selbstverwaltung zugestanden wurde. Damit wurde aber auch der sonst fast nur über den 25-jährigen Auxiliardienst mögliche Zutritt zur civitas Romana für die finanziell besser gestellten Provinzialen erleichtert, da sie munizipale Ämter annehmen und so in den ordo decurionum aufsteigen konnten.
Während in sonst frisch eroberten bzw. provinzialisierten Gebieten von Rom gerne der Kult der dea Roma und/oder des Augustus bzw. des jeweils regierenden Kaisers eingerichtet wurde, den Priester aus der einheimischen Aristokratie zu versehen hatten, dürfte in Noricum ein genau umgekehrter Vorgang stattgefunden haben. Aufgrund Jahrhunderte langer freundschaftlicher Verbindung, dem so genannten hospitium publicum, zwischen der res publica Romana und dem regnum Noricum setzte Rom, nachdem Noricum in das imperium Romanum einverleibt worden war, anscheinend einen symbolischen Akt des Respekts und der Verbundenheit mit der Einführung des Kultes der Noreia als Provinzgottheit, dessen Betreuung den römischen Beamten und Militärs oblag.

Peter Scherrer


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